Es gibt tausende Ratgeber zum “Leben im Moment”. Doch was heißt das eigentlich genau und wieso gelingt uns das so selten?
Die Wahrnehmung des Moments.
Ob wir es wollen oder nicht, unser Leben findet grundsätzlich im Moment statt. Mit dieser These könnte man sich entspannt zurücklehnen und den Beitrag nach drei Sätzen beenden, wäre da nicht das Problem unserer Wahrnehmung. Die meisten von uns nehmen ihr Leben nämlich gar nicht im Moment wahr. Entweder vergleichen wir die aktuelle Situation mit der Vergangenheit oder wir überlegen, welche Konsequenzen eine Situation für die Zukunft hat. Im schlimmsten Falle beides. Daneben wollen wir die Situation natürlich zu unseren Gunsten beeinflussen. Dazu vergleichen wir eine Situation im Moment des Erlebens mit unseren Erfahrungen und spielen gedanklich verschiedene Varianten durch. Dieser Vorgang kostet uns viel Energie. Energie die unserem Bewusstsein für den Moment verloren geht.
Kinder leben im Moment. Sie haben je nach Alter nur wenige Erinnerungen, auf die sie zurückgreifen könnten um eine Situation zu vergleichen. Sie erleben ständig etwas Neues. Ein Leben in Vergangenheit und Zukunft ist ihnen fremd. Häufig entstehen so Konflikte zwischen Erwachsenen und Kindern. Was sieht ein Kind in einer Pfütze? In erster Linie die Verlockung hineinzuspringen oder vielleicht sich darin zu spiegeln oder, so habe ich es gern gemacht, eine Verbindung zwischen zwei Pfützen mit einem Stock herzustellen. Was sehen die meisten Erwachsenen? Die Gefahr, das Kind könnte hineinspringen und das Gequengel über nasse Füße, dreckige Kleidung oder den schmutzigen Fußboden Zuhause. Das Kind könnte ja auch krank werden, wegen der kalten Füße und es käme nicht gut beim Chef, wenn ich deshalb wieder ausfalle. – Das ist nicht der Moment, das ist die gedachte Zukunft, entstanden aus der Vergangenheit (Erfahrung). Statt im Moment zu bleiben, beginnen nun viele das Denken außerhalb des Moments noch zu fördern, indem sie Weisungen an das Kind aussprechen. “Spring da ja nicht hinein, sonst wirst du wieder krank!” wäre ein typisches Beispiel. Angst vor der Zukunft sorgt also für ein Erleben außerhalb des Moments. Das scheint kleinen Kindern völlig zu fehlen. Ist das nicht wunderbar?
Die Vergangenheit vergessen. Die Zukunft frei lassen.
Wir sind in der Lage nahezu unbegrenzt Erinnerungen zu sammeln. Zumindest ist mir bisher niemand bekannt, der die Grenzen des Gedächtnisses erreicht hat. Natürlicherweise bleiben vor allem jene Erinnerungen besonders lange im Gedächtnis hängen, die mit besonders deutlichen Emotionen verbunden sind. Fehlt dieser emotionale Impuls, fällt es schwer Dinge zu behalten. So können Kinder manchmal breit grinsend ellenlange Scherzgedichte über einen Furz aufsagen, scheitern aber an vier Zeilen über den Frühling. Der Moment, als das Gedicht den Klassenkameraden auf dem Schulhof präsentiert wurde war viel spannender und damit emotionaler, als die Deutschstunde zum Gedicht über den Frühling. Ohne Emotionen läuft das System “Erinnerung” schlecht.
Leben im Moment vs. vermeintliche Sicherheiten
Trotzdem versuchen wir uns besonders viel zu merken und halten uns für schlau, wenn wir die Folgen einer Handlung mutmaßlich bis in das letzte Detail vorausplanen können. Mutmaßlich, weil die angebliche Sicherheit die wir dabei empfinden nur eine Illusion ist. Ich kann drei Mal prüfen ob der Wecker gestellt ist. Das der Akku fast leer ist, habe ich übersehen. Wir können eintausend Gutachten zum Kraftwerk in Fukushima erstellen und am Ende zeigt die Natur uns, wie wenig Kontrolle wir tatsächlich haben. Was soll also diese Ansammlung von Erinnerungen? Warum zerstören wir uns Moment für Moment durch solch ein Vorgehen?
Mehr Kind sein.
Dahinter steckt das Verlangen nach größtmöglicher Sicherheit, das unseren Leben immer mehr den “Zauber” des Kindseins nimmt, den “Zauber” des Moments. Wenn wir den Moment wieder erleben wollen, müssen wir wohl die Vergangenheit hinter uns und die Zukunft frei lassen. Vielleicht gelingt es uns, wenn wir drauf achten etwas mehr Kind zu sein und für einen schönen Moment auch mal eine Erkältung in Kauf nehmen. Die ist nämlich, wenn überhaupt, erst in der Zukunft real.
Ja, mach nur einen Plan!
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch’nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.
Auszug aus B.Brechts “Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens”